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In Deutschland gibt es gut 100.000 Sachverständige. Von ihren Gutachten hängt viel ab. Ihre Macht ist daher groß. Aber auch ihre Abhängigkeit von künftigen Aufträgen. Betroffene geraten so in eine Gutachterfalle.
Hier ein verbürgtes Beispiel aus der Praxis eines Berliner Instituts, das für Jobcenter, Sozialämter oder die Deutsche Rentenversicherung psychologische Gutachten erstellt. Es geht um das Kreuz beim Kästchen erwerbsfähig oder nicht erwerbsfähig.
Der Patient in der Gutachterfalle: „Ich muss die Quote einhalten“
Der Berliner Rechtsanwalt Dr. Timo Gansel bietet Betroffenen Hilfe aus der Gutachterfalle an: „Fast ein Drittel aller deutschen Arbeitnehmer beantragt aufgrund von psychischen Erkrankungen oder Nervenkrankheiten die Berufsunfähigkeitsrente. Die Dunkelziffer könnte sogar noch höher liegen und eine Trendwende ist nicht in Sicht. Angesichts dieser Zahlen ist es nicht verwunderlich, dass BU-Versicherer immer wieder Leistungen verweigern, obwohl die geschädigten Versicherungsnehmer einen Anspruch darauf hätten.“
Unter vier Augen soll ein Gutachter des Berliner Instituts bei der Erst-Begutachtung einem Brandenburger Sozialhilfeempfänger, der wegen Dauerdepressionen einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente gestellt hatte, gestanden haben: „Ja, Sie sind dauerhaft krank. Und ich würde Sie ja gerne erwerbsunfähig schreiben, aber ich kann nicht. Ich muss die Quote einhalten. Ich habe drei Kinder zu ernähren.
Zwei Jahre später landete derselbe Antragsteller wieder bei diesem Berliner Institut. Zum Glück beim selben Gutachter. Der erinnerte sich: „Ja, jetzt kann ich Sie erwerbsunfähig schreiben“.
Niemand überprüft den Inhalt solcher Gutachten. Hauptsache, der Gutachter hat sich an die vorgegebene Quote des Auftraggebers gehalten, der für sein Einkommen sorgt.
Häufige Auftraggeber für Gutachter sind Strafverfolgungsbehörden. Allein im Auftrag der Justiz werden jährlich rund 400.000 Gutachten erstellt.
„Absolute Macht“
Dr. med. Hanna Ziegert aus München ist Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, eine erfahrene Gerichtsgutachterin und Co-Autorin des Buches „Die Schuldigen„. Sie sagte dem ZDF-Magazin WiSo in der Sendung vom 2. August 2021: „Der Gutachter hat im Strafverfahren die absolute Macht. Der Gutachter entscheidet faktisch darüber, ob zum Beispiel ein Mörder ins Gefängnis geht oder ins Haftkrankenhaus. Er entscheidet, ob er lebenslang untergebracht wird oder eine zeitige Freiheitsstrafe bekommt. Das sind letztendlich die Entscheidungen, die sich aus dem Ergebnis der Begutachtung ergeben.“
Doch längst nicht jeder gehe mit dieser Macht verantwortungsvoll um. Beauftragt werden die gerichtlichen Gutachter von Staatsanwälten oder Richtern. Die wählen Sachverständige aus, die sie kennen. Oder suchen auch mal im Internet nach Experten.
„Ich erwarte von Ihnen das und das Ergebnis“
Dr. Hanna Ziegert: „Es gibt immer wieder Fälle, wo das Gericht oder die Staatsanwaltschaft anruft, wo im Anruf schon angedeutet wird: Ich erwarte von Ihnen das und das Ergebnis. Die Justiz hat vereinzelt Interesse an bestimmten Ergebnissen.“
So habe auch sie schon unlautere Vorgaben bekommen. Doch wie häufig kommt dies bei Gerichtsgutachtern vor?
Gutachterfalle: Tendenzvorgaben durch Gerichte
Das erforschte eine Studie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Und zwar unter 250 Medizinern, Psychologen und Psychiatern, die ausschließlich oder nebenberuflich als Gutachter tätig sind.
Denn viele Sachverständige aller Fachbereiche gehen ihrem regulären Beruf nach und nehmen nur ab und zu Gutachteraufträge an.
Studienleiterin Ursula Gresser, Uni-Professorin für Innere Medizin und FDP-Politikerin in Sauerlach im Landkreis München, sagte gegenüber WiSo: „Das Ergebnis der Studie war, dass viele völlig entgegen unseren Erwartungen tatsächlich angegeben haben, dass ihnen bei Auftragsvergabe schon mal ein Signal gegeben wurde, wie das Gutachten aussehen könnte.“
Am häufigsten sei dies bei Psychologen der Fall. Von denen 45 Prozent anonym angaben, von Gerichten Tendenzen signalisiert bekommen zu haben.
Am zweithäufigsten mit 28 Prozent bei Psychiatern.
Beim Deutschen Richterbund in Berlin kennt man die Studie
Joachim Lüblinghoff, Co-Vorsitzender des Präsidiums des Deutschen Richterbundes in Berlin und Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Hamm in Nordrhein-Westfalen: „Wenn dieser Eindruck entsteht oder bei den Sachverständigen entstehen könnte, dann ist das ein Umstand, der von uns, von den Richtern und Richterinnen, sehr ernst genommen werden sollte.“
Und das gelte auch für ein weiteres Ergebnis der Studie.
Je finanziell abhängiger, desto mehr Erfüllungsgehilfe
Uni-Professorin Ursula Gresser: „Dass die Gutachter, die angaben, schon mal ein solches Signal bekommen zu haben – man könnte von Einflussnahme sprechen – dass die in der Regel einen größeren Anteil ihrer Einnahmen aus Gutachtertätigkeit beziehen als diejenigen, die noch nie ein Signal bekommen haben.“
Für die Fachärztin Dr. med. Hanna Ziegert ist klar, warum dies so ist: „Diese Gutachter sind vom Gericht abhängig. Und je mehr ich finanziell abhängig bin von der Justiz, desto mehr werde ich zu deren Erfüllungsgehilfe.“
„Eine Katastrophe“
Und das gelte für von Gerichten beauftrage Gutachter aller Fachbereiche. Professorin Ursula Gresser: „Ich finde das ist eine Katastrophe. Weil manche kein gerechtes Gutachten bekommen. Damit vielleicht sogar Fehlentscheidungen gefällt werden. Weil das Gutachten nicht korrekt begutachtet, sondern einseitig begutachtet.“
Gerichtsgutachten also nach Vorgaben der Auftraggeber. Statt nach bestem Wissen und Gewissen.
Fehlende Kontrolle treibt unerwünschte Blüten
Er galt als der schärfste Ärzteverfolger in Hessen, wenn es um Korruption zum Beispiel in Kliniken ging. Der Frankfurter Ex-Oberstaatsanwalt und Ex-Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt Alexander Badle (53) war ein bekanntes Gesicht auf vielen Pressekonferenzen. Doch er kam letztes Jahr von Ende Juli bis Mitte September 2020 selbst in Untersuchungshaft. Nach Informationen der BILD legte der bekannte Oberstaatsanwalt ein Geständnis ab. Auch wenn er auf freiem Fuß ist, muss er sich regelmäßig bei der Polizei melden.
Der Oberstaatsanwalt soll Schmiergelder seines Schulfreundes, ein 54jähriger Unternehmer, der Gutachten für Justizbehörden erstellt, angenommen haben. Angeblich im Schnitt 4.000 Euro pro Monat. Das Unternehmen habe in den vergangenen zehn Jahren bis 2020 durch die Gutachter-Aufträge des Oberstaatsanwalts einen Umsatz in Höhe von mehr als 12,5 Millionen Euro erzielt – das sind rund 90 Prozent der Gesamteinnahmen. Konkret geht es um die Fälle von August 2015 bis Juli 2020. In diesem Zeitraum, teilte die Staatsanwaltschaft Frankfurt mit, seien 240.000 Euro an sogenannten Kickback-Zahlungen an den Beamten geflossen.
Dabei gehörte die Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen zu seinen Hauptaufgaben
Alexander Badle leitete seit Oktober 2009 bei der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main die Zentralstelle zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten und Korruption im Gesundheitswesen. Seine frühere Lebensgefährtin, die selbst im Zusammenhang mit besagter Firma als Gutachterin tätig gewesen sein soll, hat ihn nach Informationen der Süddeutschen Zeitung bereits 2019 angezeigt.
Die Zentralstelle zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten und Korruption im Gesundheitswesen in Frankfurt wurde aufgelöst und Anfang Januar 2021 bei der Staatsanwaltschaft Fulda neu aufgestellt.
„Je tiefer man gräbt, umso mehr mögliche weitere Straftaten von Badle kommen zum Vorschein“, sagte Marion Schardt-Sauer, justizpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion. Ihre Anfrage ergab, dass weitere Ermittlungsverfahren gegen Badle laufen. So wird ermittelt, ob er Verantwortliche des Klinikums Fulda unter Androhung einer unangemessenen Ausweitung des Verfahrens und überzogener Zwangsmaßnahmen genötigt hat, einen Rechtsanwalt zu entpflichten.
Ebenso wird geprüft, ob er die Kassenärztliche Vereinigung zu einer vermehrten Erstattung von Strafanzeigen veranlasst hat und ob er unnötig Aufträge an Sachverständige gegeben hat sowie überhöhte Rechnungen abgezeichnet hat. „Sollte sich das bewahrheiten, könnte der strafrechtliche Vorwurf gegen Badle eine weitere Dimension erreichen. Das wäre schockierend“, so Schardt-Sauer in der Fuldaer Zeitung vom 20. Januar 2021.
Ex-Oberstaatsanwalt Badle soll unter anderem Ermittlungsverfahren gegen die Main-Kinzig-Kliniken und das Klinikum Fulda geleitet haben.
Erste Maßnahmen durch das hessische Justizministerium, um eine Wiederholung zu verhindern: Einführung des Vier-Augen-Prinzips bei Auftragsvergaben in allen Staatsanwaltschaften.
Guterachter-Opfer haben es schwer, ihre Unschuld zu beweisen
Wie der Saarländer Norbert Kuß (77) aus Marping, der unschuldig im Gefängnis saß.
BILD-Chefreporter für das Saarland Ralph Stanger twitterte am 23. November 2017 vom Saarländischen Oberlandesgericht, welches Justizopfer Norbert Kuß gerade ein Schmerzensgeld von der Gutachterin in Höhe von 60.000 Euro zugesprochen hatte, folgende Stellungnahme von Norbert Kuß: „Es ist doch eine Wiedergutmachung für das, was ich erlitten habe. Und: Ich kann machen, was ich will. Es ist Bestandteil des Lebens. Nicht nur für mich. Auch für meine Frau.“
Aufgrund eines sogenannten aussagepsychologischen Gutachtens, das Aussagen des vermeintlichen Missbrauchs-Opfers als „mit hoher Wahrscheinlichkeit glaubhaft“ einstufte, wurde der Exbundeswehrbeamte Norbert Kuß im Jahr 2004 vom Landgericht Saarbrücken wegen schweren sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener verurteilt und landete für fast zwei Jahre im Gefängnis für einen angeblichen Missbrauch seiner Pflegetochter, die er 2001 im Alter von 12 Jahren aufgenommen hatte. Er verlor sogar seine Pensionsansprüche.
Nach seiner Haftentlassung wurden gravierende Mängel an diesem Gutachten festgestellt. Er verklagte die Gerichts-Gutachterin auf Schadensersatz und Schmerzensgeld – in einem Wiederaufnahmeverfahren wurde nachträglich seine Unschuld festgestellt und im Jahr 2013 das Urteil vom Amtsgericht aufgehoben.
Erste Hinweise auf Sexual- und frühere Missbrauchserfahrungen des Mädchens wurden im ersten Prozess überhört oder ignoriert. Das Gericht ließ zudem ein Alibi für einen der benannten Tatzeitpunkte unberücksichtigt, weil es dem Mädchen und dem Gutachten mehr Glauben schenkte.
Gutachterfalle: „Gravierende methodische Mängel“
In dem neuen Gutachten kam der Direktor der Freiburger Uniklinik für Psychiatrie zu dem Ergebnis, dass die Angaben der Ex-Pflegetochter zu dem angeblichen Missbrauch durch Kuß als „nicht erlebnisorientiert“ angesehen werden müssen. Diese Angaben seien nicht glaubwürdig und das der Verurteilung zugrunde liegende Gutachten weise gravierende methodische Mängel auf. Die ursprüngliche Gutachterin hatte auch nicht beachtet, dass das Mädchen schon im Alter von zehn Jahren den ersten Geschlechtsverkehr hatte.
Im Januar 2015 wurde die ehemalige Psychiaterin des Homburger Instituts Petra Retz-Junginger, die das seinerzeit zur Verurteilung von Kuß führende Glaubwürdigkeitsgutachten erstellt hatte, vom Landgericht Saarbrücken in erster Instanz zu einer Schmerzensgeldzahlung von 50.000 Euro an Kuß verurteilt, weil das Gutachten grob fahrlässig erstellt und dabei wissenschaftliche Standards außer Acht gelassen wurden.
Darüber hinaus wurde in dem Urteil festgestellt, dass die Gutachterin verpflichtet ist, Norbert Kuß den weiteren Schaden zu erstatten, der ihm durch die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis und durch die Kürzung seiner Pensionsbezüge entstanden ist. Ebenso wurde in dem Urteil festgestellt, dass jene Sachverständige verpflichtet ist, Norbert Kuß die künftigen weiteren materiellen und immateriellen Schäden zu erstatten, die ihm durch das fehlerhafte Gutachten und durch die dadurch resultierende Inhaftierung entstehen werden.
Doch die Gutachterin respektive ihre Haftpflichtversicherung wollte das nicht akzeptieren und zog bis vor den Bundesgerichtshof. Der BGH wies die Beschwerde der Gutachterin zurück. Damit endete am 30. August 2018 für das Opfer Norbert Kuß ein 15 Jahre währender Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit. Die Haftpflichtversicherung der Gutachterin musste nun 60.000 Euro an Norbert Kuß bezahlen.
„Eine Art Grundsatzurteil für Gutachterhaftung“
Die Anwältin von Norbert Kuß, Daniela Lordt, Gründungsmitglied von GIRING LORDT WÖLK Rechtsanwälte PartGmbB aus Saarbrücken, hält den BGH-Beschluss für richtungweisend. Der Saarbrücker Zeitung sagte die Opfer-Anwältin: Das sei eine Art Grundsatzurteil für Gutachterhaftung.
Deshalb habe sich die Versicherung auch so scharf gegen die Zahlung gewehrt. Bisher habe sich der BGH dazu kaum oder gar nicht geäußert, doch nun gebe es in der Begründung des Urteils Leitlinien.
Zur Vermeidung der Gutachterfalle: Wunsch nach Zweit-Gutachten
Was sich Gutachter-Opfer Norbert Kuß wünscht? Dass immer dann, wenn es um schwere Entscheidungen geht, ein zweites Gutachten eingeholt wird.
Eine Forderung, die viele Anwälte teilen. Beim Deutschen Richterbund in Berlin dagegen sieht man das anders. Bundesgeschäftsführer Richter Joachim Lüblinghoff: „Das ist natürlich doppelt kostenintensiv. Und bedeutet: Mehrere Gutachter ganz sicher Verfahrensverlängerung. Wenn diese Gutachter nicht zum selben Ergebnis kämen, dann müssen sie natürlich überlegen, welchem von diesen Gutachten folgen sie oder sie sagen, ok, dann beauftrage ich noch einen Dritten.“
Was Betroffenen sicherlich lieber wäre als Fehlurteile.
Die Wissenschaft empfiehlt: Zufalls-Auswahl der Gutachter
Eine weitere Forderung kommt aus der Wissenschaft.
Professorin Ursula Gresser fordert: „Dass man eine Zufallsauswahl treffen sollte. Nicht aus dem Umfeld, sondern aus einer Zufallsdatenbank gesteuert. Weil diese festen Gericht-Gutachter-Beziehungen wesentlich anfälliger sind für Inkorrektheiten, als wenn das einfach eine zufällige Konstellation ist. Mit einem Gutachter, der sonst mit diesem Gericht nichts zu tun hat.“
Beim zuständigen Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz heißt es dazu schriftlich: „Das bestehende System vor allem auch der Gutachterauswahl habe sich bewährt.“ Eine Zufallsauswahl dagegen halte man für bedenklich. Und auch die grundsätzliche Verpflichtung zur Einholung von Zweitgutachten bei wichtigen Entscheidungen halte man nicht für erforderlich.
„Und so werden wohl auch in Zukunft viele in die Gutachterfalle tappen und sich mit weitgehend unkontrollierten, vermeintlichen oder parteiischen Sachverständigen auseinandersetzen müssen“, meint der diplomierte Jurist und WiSo-Autor Andreas Baum (43) aus Kassel. (FM)
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